Mit dem sogenannten „Osterpaket“, das im Frühjahr beschlossen wurde, macht die Bundesregierung Ernst: 80% des Stromverbrauchs soll bis 2030 in Deutschland aus erneuerbaren Quellen erzeugt werden. Das bisherige Ziel von 65% bis 2030 wird damit deutlich angehoben. Zum Vergleich: Der tatsächliche Anteil Erneuerbarer lag im Jahr 2021 bei ca. 42%. Gleichzeitig besteht Einigkeit darüber, dass der Stromverbrauch in den nächsten Jahren deutlich steigen wird – hier schlagen sich Trends in der Mobilitätswende, in der Wärmewende und in der Dekarbonisierung der Industrie deutlich nieder.
In Summe reden wir also davon, dass wir den Anteil Erneuerbarer in Deutschland innerhalb der nächsten siebeneinhalb Jahre (bis 2030) mehr als verdoppeln müssen, um diese Ziele zu erreichen. Und sehen wir nicht gerade schmerzlich, wie – verstärkt durch die ausbleibenden russischen Gaslieferungen – der Strommarkt bereits jetzt vor einer Zerreißprobe steht? (siehe zu den aktuellen Entwicklungen unseren Artikel Batteriegroßspeicher als Schlüsseltechnologie der Energiewende, in dem wir am Beispiel des Pfingstmontags, 6. Juni 2022, ein Schlaglicht auf das werfen, was uns am Energiemarkt in den nächsten Jahren erwartet)
Nehmen wir an dieser Stelle an, es gelingt uns in den nächsten Jahren tatsächlich, den angespannten Lieferketten zu trotzen, die Konflikte zwischen Wattenmeer und Windkraft, zwischen solarer Energieernte und Landwirtschaft aufzulösen und die enormen Mengen an Erneuerbaren tatsächlich zu bauen. Stehen wir dann nicht vor dem Grundsatzproblem, dass die Stromnetze gar nicht zur Verfügung stehen, um den im Übermaß anfallenden Strom abzutransportieren? Immerhin lagen die Kosten für Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen bedingt durch Stau auf den Stromtrassen bereits im Jahr 2021 bei stolzen 2,3 Milliarden Euro, mit steigender Tendenz. Hinter dieser Zahl stehen nicht nur Kosten für den Redispatch konventioneller Erzeugungsanlagen, um insbesondere den Engpass zwischen Nord- und Süddeutschland zu lindern. Nein, auch erneuerbare Energien wurden im großen Stil zwangsweise abgeschaltet, um die Engpässe sowohl auf den Stromautobahnen des Übertragungsnetzes, als auch auf den Strom-„Bundesstraßen“ des Verteilnetzes zu lindern.
Auf diese Art wurden im Jahr 2021 fast 6 TWh an erneuerbarer Stromproduktion abgeregelt, was immerhin fast 3% der gesamten Stromerzeugung aus Erneuerbaren entspricht.
Mit den ambitionierten Ausbauzielen bis 2030, dem steigenden Stromverbrauch und den bereits heute auftretende Engpässen steht das Stromnetz der Zukunft vor der großen Herausforderung, sich innerhalb weniger Jahre auf die massiv steigende Belastung vorzubereiten.
Der Gesetzgeber hat den Ernst der Lage bereits vor geraumer Zeit erkannt und mit dem im Jahr 2019 in Kraft getretenen ‚Netzausbaubeschleunigungsgesetz‘ (NABEG) Gegenmaßnahmen ergriffen. Als zentrales Element wurden dort die Genehmigungsverfahren für Neubau und Optimierung von Stromleitungen vereinfacht, was zu einer Beschleunigung des Netzausbaus führen soll. Fraglich ist allerdings, ob diese Beschleunigung ausreicht, um die hoch gesteckten Ziele zu erreichen, da die Umsetzungsdauer bei Großprojekten in der Netzinfrastruktur -selbst wenn bei den Genehmigungsverfahren alles glatt läuft - nicht zu unterschätzen ist. So redet der Netzbetreiber TenneT im Rahmen der großen Nord-Süd-Trasse ‚SuedLink‘ auch mit den neuen Voraussetzungen des NABEG von einer Fertigstellung der Elbquerung – einem 5 Kilometer langen und 20 Meter tiefen Tunnel unter der Elbe - bis zum Jahr 2028, wenn alles nach Plan läuft. Anderen Projekten geht es ähnlich. In der Fachwelt herrscht daher Konsens: Der Netzausbau wird auch mittelfristig dem Ausbau der Erneuerbaren hinterherhinken, zum Erreichen der ambitionierten Ziele sind also weitere Maßnahmen erforderlich.
So schafft das NABEG beispielsweise für die Netzbetreiber auch neue Möglichkeiten, um zusätzliche Anlagen in den „Redispatch“, also die Neuausrichtung der Stromerzeugung zur Anpassung an die netztechnischen Gegebenheiten, einzubeziehen. Unter dem Oberbegriff „Redispatch 2.0“ sind seit dem 1. Oktober 2021 statt bisher deutschlandweit ca. 80 konventionellen Kraftwerken nun über 80.000 Anlagen in den Redispatch eingebunden, darunter überwiegend mittelgroße Erneuerbare mit einer Leistung über 100 kW, die bislang nur über einen Notfallmechanismus namens ‚Einspeisemanagement‘ abgeschaltet werden durften.
Doch auch hier gibt es einen großen Haken: Zwar vergrößert sich durch den Redispatch 2.0 der Instrumentenkasten für die Netzbetreiber, die nun über ein leistungsfähigeres, gut planbares Verfahren zur Netzstabilisierung verfügen. Aber häufig dienen dann zur Netzstabilisierung genau die Erneuerbaren, die ja eigentlich nicht abgeschaltet, sondern zusätzlich ins Netz aufgenommen werden sollen. So kann das Netz technisch einen größeren Umfang an Abschaltungen verkraften, die gesamte Aufnahmefähigkeit von Erneuerbaren wird aber nicht gesteigert. Im Ergebnis ist in stark engpassbehafteten Regionen damit zu rechnen, dass weiterhin große Teile des erneuerbaren Stroms abgeregelt statt genutzt werden. Dies widerspricht den Zielen der Energiewende und nachhaltige Lösungsoptionen scheinen Mangelware zu sein.
Preissignale an Energiemärkten sind ein mächtiger Anreiz zur Anpassung des Verhaltens am Strommarkt. Aktuell beobachten wir beispielsweise massiv gestiegene Preisspitzen, da in den sonnenreichen Mittagsstunden der Markt von Erneuerbaren dominiert wird, abends hingegen teure konventionelle Kraftwerke aktiviert werden müssen. Anlagen, die den Strom dann tagsüber einspeichern und abends ausspeichern können, erzielen teils hohe Gewinne und helfen gleichzeitig dabei, die Preisspitzen zu dämpfen. Derartige Energiespeicher üben also einen positiven Effekt auf den Strommarkt aus und sorgen dort für gesteigerte Stabilität.
Haben wir es jedoch mit lokalen Netzengpässen zu tun, funktionieren die Anreize leider noch nicht. Wir haben in Deutschland einen einheitlichen Strompreis, und ob der Strom in Flensburg oder in Füssen ein- oder ausgespeichert wird, spielt für den Marktpreis und die möglichen Gewinne keine Rolle. Künftig werden allerdings auch auf lokaler Ebene Märkte eine entscheidende Rolle spielen. Sogenannte „Flexibilitätsmärkte“ haben im künftigen Energiesystem das Potential, das Zusammenspiel zwischen Markt und Netz entscheidend zu verbessern. Die Einführung von Flexibilitätsmärkten wurde in der gesamten Europäischen Union im Rahmen des sogenannten „Clean Energy Package“ im Jahr 2019 beschlossen und von Deutschland im Jahr 2021 in nationales Recht überführt.
Im Kern geht es darum, dass das aktuelle System, das dem oben beschriebenen Redispatch bzw. Redispatch 2.0 zugrunde liegt, von einem kostenbasierten System auf ein marktbasiertes System umgestellt wird. Flexible Ressourcen können dann preislich um die günstigste Beseitigung eines Netzengpasses konkurrieren, anstatt eine vorab festgelegte Entschädigung auf Kostenbasis zu erhalten. Neben konventionellen und erneuerbaren Stromerzeugern, die bereits im aktuellen, kostenbasierten‚ Redispatch 2.0‘-Regime beinhaltet sind, können dann auch Stromverbraucher und Speicher (Anmerkung: Speicher verschieben gem. EnWG-Novelle vom Juli 2022 den Verbrauch und sind weder Erzeuger noch Verbraucher) bei der Beseitigung von Engpässen mithelfen. Und dies im Zweifel kostengünstiger als die konventionellen bzw. erneuerbaren Alternativen. Im Ergebnis werden die Kosten für das System gesenkt, die Abregelung von Erneuerbaren wird vermieden und innovative Ansätze zur Bereitstellung lokaler Flexibilität werden gefördert.
In der Praxis sähe ein solches Verfahren für einen Speicher dann so aus, dass dieser einen bestimmten Preis anbietet, um zum Beispiel einen Engpass durch Erneuerbaren-Überschuss in einer bestimmten Region aufzuheben. Er kann das, wenn er vorher entladen wurde und wenn er an einer Stelle im Netz positioniert ist, die in Richtung des Stromflusses „vor“ der kritischen Engstelle liegt. Der Netzbetreiber kann diesen Preis dann mit den Kosten vergleichen, die durch die Abschaltung der Erneuerbaren entstehen würden - immerhin haben die Erneuerbaren Anspruch auf Erstattung der entgangenen Vermarktungserlöse. Es wäre aber gut möglich, dass der Speicher diese Kosten unterbieten kann. Denn anstatt die Anlagen abzuregeln und den Strom damit zu vernichten, kann der Speicher die Erzeugung bis zu einem späteren Zeitpunkt verschieben, an dem das Netz aufnahmefähig ist. Hohe Gewinne winken vor allem dann, wenn der Strom besonders knapp und teuer ist. Scheint beispielsweise tagsüber die Sonne und verstopft der Photovoltaik-Strom die Netze, kann ein günstig gelegener Speicher dieses Problem zu geringen Kosten lösen und den Strom aufnehmen. Er profitiert dann zusätzlich, wenn er am Abend den Strom zu höheren Preisen am Markt verkauft, und als angenehmer Nebeneffekt muss keine erneuerbare Energie vernichtet werden.
Langfristig führen derartige Erlösmöglichkeiten dazu, dass Speicher sich alleine aus wirtschaftlichen Erwägungen bevorzugt in Regionen mit ernsteren Netzengpässen ansiedeln – denn dort können sie durch die Vermeidung von Netzengpässen zusätzliche Einnahmen generieren. So werden sinnvolle Investitionsanreize für Speicher dort gesetzt, wo sie am dringendsten benötigt werden. Die Gesamtkosten des Systems sinken dabei, weil aus Sicht des Netzbetreibers die Vergütung für den Speicher – trotz Profiten – immer noch geringer ausfällt als für die Abregelung der Erneuerbaren. Und wenn der Speicher allzu hohe Preisvorstellungen hat, geht er ganz leer aus und der Netzbetreiber greift auf die Abschaltung der Erneuerbaren zurück. Verlieren kann der Stromverbraucher dabei nicht, da die Netzkosten nicht steigen, wohl aber deutlich sinken können. Das schlägt sich dann erfreulich in der Stromrechnung nieder.
In Flexibilitätsmärkten liegt also ein großes Potential, um die bestehenden Netzengpässe kostengünstiger zu bewirtschaften und damit den Netzausbau zu flankieren. Außerdem müssen durch bessere Auslastung der bestehenden Netze weniger Erneuerbare abgeschaltet werden – insgesamt also ein großer Gewinn für die Energiewende!
Auf dem Weg dieses Potential zu entfesseln, liegen jedoch noch einige Hürden: Trotz klarer Richtung des europäischen Rechtsrahmens im Clean Energy Package und trotz klarer Umsetzung in nationales Recht hakt es in der Praxis. Netzbetreiber haben keine Rechtssicherheit bei der Weitergabe von Kosten, die durch die Aktivierung von Speichern oder Verbrauchern für Redispatch entstehen. Die Vorgaben aus nationalem Recht und aus den Festlegungen der Bundesnetzagentur widersprechen sich teils diametral. In dieser Gemengelage gehen die meisten Netzbetreiber auf Nummer Sicher und schalten trotz teils deutlich höherer Kosten weiter Erneuerbare ab, statt marktbasierte Flexibilitäten zu nutzen. Erschwerend kommt hinzu, dass angesichts der vorherrschenden Unsicherheit auch Uneinigkeit bei den Netzbetreibern herrscht, inwieweit neu zugebaute Speicher tatsächlich netzdienlich eingesetzt werden können. Im Ergebnis führt dies häufig zu der paradoxen Situation, dass Speicher eher dort gebaut werden, wo keine Engpässe bestehen, da der Netzbetreiber dort keine Einwände gegen einen rein marktgetriebenen Betrieb der Speicher hat – wir erinnern uns an die Ausnutzung von Preisschwankungen am Strommarkt, die oben beschrieben wurde, und die für Batteriespeicher auch ganz ohne Netzengpässe ein lohnendes Geschäft darstellt.
Der Investitionsanreiz, Speicher an den richtigen Stellen im Netz zu errichten, ist damit leider in Deutschland noch nicht richtig gesetzt. Politik und Regulierung müssen gemeinsam mit den Netzbetreibern und der Speicherbranche dringend Lösungen finden, um die noch bestehenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Damit wäre ein entscheidender Schritt getan, das Stromnetz auf die zukünftigen Belastungen vorzubereiten und dem Ziel von 80% Erneuerbaren im Jahr 2030 ein gutes Stück näher zu kommen.